Ich muss zugeben, dass ich der Anfrage, ob ich mich denn vielleicht einmal mit dem Dichter und Musiker Carl Friedrich Siegmund von Seckendorff-Aberdar beschäftigen wolle, nur deswegen nicht auswich, weil ich zunächst an einen ganz anderen Seckendorff dachte, nämlich den eine Generation später geborenen Leo von Seckendorff (1775-1809), der zwar auch eine zu Unrecht vergessene Figur Weimars und der deutschen Literatur um 1800 war, aber doch zugänglicher und behandelter, wenn man so sagen darf, als der Komponist und Singspieldichter Siegmund. Doch hatte ich wenigstens schon von ihm gehört, während meines Germanistikstudiums in Heidelberg nämlich und von einem weiteren Vertreter dieser immer noch ausgebreiteten und mittlerweile sogar in die bildende Kunst wuchernden Linie. Ansonsten dürften selbst Spezialisten der Goethezeit die Seckendorffs allenfalls namentlich bekannt sein, Leo vielleicht noch eher als Herausgeber später Hölderlin-Oden in den Musenalmanachen der Jahre 1807/08 und von Goethes "Pandora" in der kurzlebigen Wiener Zeitschrift "Prometheus". Doch Siegmund wohl kaum, obwohl er sogar der interessantere von beiden ist. Aber wie das eben manchmal so geht: Siegmund hatte ausschließlich für die Weimerer Hofgesellschaft geschrieben und komponiert; er war also gewissermaßen privat geblieben, während Leo einen publizistischen Briefwechsel entfachte und mit den Arnims, Böttiger, den Brentanos, Goethe, Herder, Hölderlin, Jean Paul, Kerner, Klopstock, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Tieck, Uhland, Wieland, Karoline von Wolzogen und noch manchen anderen einen ausgedehnten Briefwechsel zelebrierte, was ihn zum würdigen Forschungsgegenstand erhob, während Siegmund nur mit Goethe konkurrierte und daher vollständig vergessen war, sobald dessen Glanz richtig erstrahlte. Leos Briefe waren da viel interessanter. Sie geben Einblick in die Funktionsweise der literarisch-künstlerischen Zirkel der Residenzstadt und enthalten authentische Mitteilungen, insbesondere zur Ausbildung einer spezifisch weiblichen Gefühls- und Briefkultur, denn er konnte es mit den Damen, Charlotte Herder, Caroline Jagemann, Auguste v. Kalb u.a.e.1 Karl Friedrich Siegmund dagegen war ja nur der gelegentliche Musiker Goethes, der ansonsten jahrzehntelang ganze Heerscharen dienstbarer Musiker, Komponisten und Opernhersteller berschäftigte, wie sollte da einer auffallen?
Die Enttäuschungen begannen schon ganz zu Beginn, denn der eigentliche Grund seines Wohnortwechsels nach Weimar war, dass Herzog August von Sachsen-Weimar ihm eine gutbezahlte Legationsratsstelle versprochen hatte. Als er jedoch ein paar Monate später in Weimar eintraf, um sie anzutreten, saß bereits ein anderer auf dieser Stelle, nämlich der fünf Jahre jüngere Goethe, den gerade hochberühmt gewordenen Verfasser des Werther, den Karl August kurzerhand vorgezogen und der sich in Windeseile zum Weimarer Mittelpunkt, Freund, Zechgenossen und Busenfreund Karl Augusts entwickelte, wobei das keine Übertreibung ist. Mehrfach wird berichtet, daß er mit dem „über alle Maßen unternehmungslustigen Herzog“ gelegentlich „Konvenienz und Schicklichkeit vermissen ließ“, wie man sich zurückhaltend ausdrücken könnte. Schlicht gesprochen, Goethe zog mit dem Herzog durch die Kaschemmen, wohl auch verkleidet durch die Gegend. Man soff und hurte, wobei zeitgenössische Quellen auch schon mal erwähnen, dass man dabei gelegentlich gewaltig daneben griff, dass es zu Händeln kam, dass man sich in Fällen zu zweit des gleichen Mädchens bediente, wie ein Bericht entgeistert konstatiert, was alles providenziell zwar so eingerichtet gewesen sein mochte, damit Goethe viel später das Verhältnis von Faust und Mephisto ausgestalten konnte, was aber den in allen Konvenienzen geübten und wohlerzogenen Siegmund von Seckendorff beim Herzog eben völlig in den Schatten stellte. Siegmund wurde trotzdem nicht gleich wieder davon geschickt,
man war nett und machte ihn zum Kammerherrn, schlechtbezahlt aber doch
hofnah und für
die Rivalität mit Goethe war damit auch der Grundstein gelegt, wobei
der junge Adlige dem noch jüngeren Verfasser des Götz von Berlichingen
und Werthers zwar poetisch vielleicht nicht ganz das Wasser reichen, wohl
aber kulturell und was die Lebensart, vor allem das Italienische anbelangt,
sicher überlegen war. Ansonsten bot die karnevaleske Folge von Festen,
Singspielen, Schauspielen und Festzügen, die eine „auf Tollheit
ausgerichtete Hofgesellschaft“ umtrieb, - das sind Seckendorffs Worte
- trotz der überragenden Figur Goethes ein gutes Spielfeld für
den begabten Musiker und Singspielkomponisten, der sich genaugenommen in
jeder Gattung einmal versuchte, und auf der Ebene des Partylife und des
gesellschaftlichen Verkehrs konnte er durchaus mit Recht den ersten Platz
für sich beanspruchen bzw. den „Göde“ sogar ausstechen,
was er in einem Fall besonderen Fall auch schaffte: „Hierzu kam noch,
daß um diese Zeit...Goethe viel Gefallen an dem ältesten Fräulein
von Kalb, Fieckchen genannt, gehabt haben soll, Siegmund von Seckendorf
aber in diesem Bezuge sein Nebenbuhler war. Da nun der alte [Kammerpräsident]
Kalb sehr auf seinen Stammbaum hielt und die Seckendorffsche Familie sich
alter Ahnen rühmte, wollte zwar den Favoriten nicht beleidigen, Siegmund
aber gern zu seinem Schwiegersohn haben...Und schließlich bekam Siegmund
das schöne Fräulein von Kalb.“ 3 Wie stark Goethe wirklich interessiert war, wissen wir nicht, Goethe schrieb jedenfalls zur selben Zeit ein Singspiel, das Seckendorff vertonte. Sie sehen, man spielte gegen und miteinander zugleich. „Es war ein Buhle frech genug“ heißt das Lied daraus, Goethe hatte übrigens „Knabe“ geschrieben, Seckendorff in seinem Lied „Buhle“ daraus gemacht:
Goethe schrieb und tanzte, Siegmund musizierte und sang. Zusammen waren sie unschlagbar. Goethe wusste, wie er bei seinen Auftritten und in der Konversation wirkte, Siegmund wusste um die Wirkung seiner Lieder. Er war keinesfalls nur ein komponierender Schatten in den Weimarer Gesellschaften. Viel eher schon dürfen wir annehmen, dass er sogar viel besser ins Hofleben passte, also „convenienter“ war als der anfangs doch vielleicht etwas ungehobelte Goethe, dass er aber eben gerade wegen dieser Harmoniebegabung auch besser zur Congenialität und weniger gut zum kreativen Dichten taugte. Er griff in die Texte Goethes ein, er schrieb eigene, die schon sehr an Goethe erinnern, die aber doch auch irgendwie sehr süß und sehr hold sind, die jedenfalls das vermissen lassen, was der Literaturkenner als Widerstand oder Rauheit bezeichnet, also das Anzeichen von wirklich empfundener und nicht wegeskamotierbarer Wirklichkeit. Diese Texte sind sozusagen begabt und convenient und sonst oft nichts, doch wir wollen nicht ungerecht sein, denn auch Goethe hat viel Mittelmäßiges verfasst und Klingklang-Reime geschrieben. Ein Siegmund-Lied will ich Ihnen zum Besten geben: Es gibt viel Ähnliches, so auch den „Morgengruß an Laura“. In diesen humanistischen Dingen war Seckendorff Goethe sicher überlegen, weswegen der sich ja später auch so dringend nach Italien aufmachte, - und ob Goethe damals im Stil Petrarcas eine perfekte Canzone hätte schreiben wollen, weiß ich nicht, Seckendorff jedenfalls hatte dieses Flair und breitete es gefällig vor der Gesellschaft Anna Amaliens aus: Wie gesagt, Fiekchen hat er Goethe weggenommen. Den Dichterlorbeer nicht. Zusammen schufen die beiden innerhalb von neun Jahren aber so manches, „Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll“ - das kennen Sie alle und auch den König von Thule und das gebückte arme Veilchen. Über Proserpina und Ganymed sei etwas mehr gesagt. Proserpina ist ein Monodram bzw. die theatralisch ausgestaltete Klage der entführten Proserpina, griechisch Persephone. (älteste Form mit der Bedeutung die, „welche [beim Dreschen] die Garben schlägt“) Hades hat Kore geraubt, als Persephone, wie sie ab nun heißt, muss sie in die Unterwelt, ihre Mutter protestiert darauf und droht, alle Pflanzen der Erde eingehen zu lassen. Man einigt sich schließlich darauf, dass Persephone nur einen Teil des Jahres im Hades verbringen muss, weswegen es auf der Welt den Winter gibt. Eine Bühnenanweisung Goethes: Öde, felsige Gegend, Höhle
im Grund, auf der einen Seite ein Granatbaum mit Früchten. PROSERPINA:
Halte! Halte einmal, Unselige! Vergebens irrst du in diesen rauen Wüsten
hin und her! Endlos liegen sie vor dir, die Trauergefilde, und was du suchst,
liegt immer hinter dir. Nicht vorwärts, aufwärts auch soll dieser
Blick nicht steigen! Die schwarze Höhle des Tartarus umwölkt
die lieben Gegenden des Himmels, in die ich sonst nach meines Ahnherrn
froher Wohnung mit Liebesblick hinauf sah. Ach, Enkelin des Jupiters, wie
tief bist du verloren!..... Ganymed ist das Gegenstück zu Proserpina. Als Hirtenknabe wurde er von Zeus, der sich in einen Adler verwandelt hatte, auf den Olymp entführt, damit er dort die Götter bewirtet - Bei Goethe wird daraus die Begegnung des lyrischen Ichs mit der Natur. Das Gedicht wird auch gern als Beweisstück für Goethes Pantheismus zitiert. Von den Regeln der barocken Poetik hat sich Goethe – das Gedicht entsteht 1774 - weitgehend gelöst. Es gibt kein Reimschema, kein festes Metrum und unterschiedlich klingende Kadenzen. Der Pantheismus war eine Zeitlang ein großes Thema der Goetheauslegung. Heute sind wir alle pantheistisch oder auch panreligiös gesonnen und genießen die poetischen Zusammenfügung philosophisch neuer Strömungen mit historisch überlieferten Bildern. Dem griechischen Mythos nach soll nicht nur Zeus, sondern auch Eos Ganymed geraubt haben. Frühling, Morgensonnenglanz und Natur vereinigen sich, der Morgenwind kühlt uns, die Natur nährt uns, die Sonne, an deren Busen wir liegen zu fassen, wird uns niemals möglich sein, aber von Ganymed bedient werden wir, im festlichen Zusammensein dennoch fast wie Götter uns fühlen. Bei Platon wird mit dem Ganymed-Mythos die Liebe vom Mann zum Jüngling gerechtfertigt. Xenophon macht daraus die geistigen Vorzüge die Liebe und auf römischen Sarkophagen findet man schließlich Ganymed als Symbol für die Erhebung der menschlichen Seele über das Irdische. - Seckendorff will die Tatsache, dass sich über Figuren wie Ganymed oder Proserpina die Natur mit dem gesellschaftlichen Menschen wieder verbindet, in der Musik nachgeahmt wissen, denn die Poesie ist ihm sozusagen das Gebet des Pantheisten und das Lied ist ihm Hauptträger des Seelischen. Die menschliche Stimme ist der Natürlichste und damit auch anspielungsreichste Teil des Sich-Aufschwingens der Seele, das Göttliche in der Natur also – und Siegmund schreibt: „So nothwendig aber bei einer Musik die Einheit der Harmonie und des Gesangs ist, ebenso unzertrennlich ist von derselben die Nachahmung oder noch besser, Anspielung auf die Natur!“ 4(1776) Die „Allgemeine deutsche Biographie“ vermerkt über Carl Friedrich Siegmund von Seckendorffs Weimarer Zeit: „Mit einem gefälligen Talent für Dichtkunst und Musik begabt, ausgestattet mit reicher Lebenserfahrung und einer vielseitigen Bildung, bethätigte er sich bald an der Entwickelung der deutschen Litteratur jener Zeit, schrieb Beiträge zu Wielands „Teutschem Merkur“, lieferte Uebersetzungen in Bertuch’s „Magazin der Spanischen und Portugiesischen Litteratur“, gab drei Sammlungen „Volks- und andere Lieder, mit Begleitung des Fortepiano“ heraus (3 Hefte, 1779–82), wozu er die Musik selbst gesetzt hatte, und veröffentlichte an sonstigen Schriften noch: „Superba“, eine Oper (1779); „Kalliste“, ein Trauerspiel (1782) und den Roman „Das Rad des Schicksals, oder die Geschichte des Tschoangsi“ (II, 1783). Das ist schon was, möchte man sagen. Aus einem Petitionsschreiben von Siegmunds Brüdern Carl und Albrecht an den Markgrafen Alexander von Ansbach-Bayreuth wissen wir allerdings, dass Siegmund nicht ganz zufrieden war. Nach immerhin neun Jahren unter Anna Amalias Regie und leider ohne jede Berücksichtigung bei Aufstiegsmöglichkeiten durch Goethe oder den Herzog wollte er weg. 1784, kam er im Auftrag König Friedrichs II. von Preußen nach Franken, schon krank allerdings und starb 1785 in Ansbach. Er liegt in der Familiengruft in Sugenheim begraben. Will man summieren, so könnte man sagen, dass er in gewissem Sinne Goethe fast ebenbürtig im höfischen Wettstreit diesem aber schnell unterlegen in der Wucht des Auftritts und Aufstiegstalents war, dass er jedoch mit dieser Unterlegenheit zurechtkam und etwas daraus machte. Dies, so behaupte ich, - als Nichtspezialist ist das natürlich kühn genug - ist der Schlüssel zum Verständnis Siegmund von Seckendorffs – und irgendwie passt das ja auch zur ewigen Rolle der Franken in der großen Welt, ob nun des Geistes oder der Literatur. Denn wie in vielen anderen Fällen hätte er ja beinahe geschafft, was Goethe geschafft hat, aber eben doch nur beinahe. Genaugenommen ging er trotz seiner großen Begabungen ehrenvoll unter und wurde, wenn auch nicht ganz, vergessen - und auch das ist ja irgendwie Franken – ich danke Ihnen. Dr. Reinhard Knodt Konzertvortrag mit Dr. Reinhard Knodt (Vortrag), Khrystyna Pichkurenko (Gesang) und Tobias Hartlieb (Tafellavier) zum Thema: "Goethes Gedichte in der Vertonung des Carl Friedrich Sigmund von Seckendorff-Aberdar" in der Villa Sandrina [Kooperation mit der Goethe-Gesellschaft Gunzenhausen] am Freitag, 5.11.2010 -------------------------------------------------------------------------------- [1] Leo von Seckendorffs intellektuelle Biographie steht unmittelbar unter dem Eindruck der historischen Ereignisse der Zeit. Sein Lebensweg ist gekennzeichnet von materiellen Abhängigkeiten, die ihn zu einer Berufswahl wider eigene Neigungen zwingen. So tritt er wie sein Vater, ein hochrangiger Diplomat, in württembergische Dienste (1801/05), wird aber, durch seine erneuerten Kontakte zu Tübinger Studienfreunden (bes. Sinclair, Hölderlin), in politische Hofintrigen verwickelt, was ihm monatelange Festungshaft einbringt und schließlich zur Ausweisung führt. Auch diese zeitgeschichtliche Ebene spiegelt sich in Seckendorffs Korrespondenz (mit Familienangehörigen und dem Dienstherrn Kurfürst Friedrich II. von Württemberg). Die letzten Unternehmungen in Regensburg und Wien, abgebrochen durch seinen frühen Tod als Angehöriger der Wiener Landwehr im Kampf gegen Napoleon, stehen im Kontext gleichlautender romantischer Bestrebungen um eine Wiederbelebung altdeutscher Literatur (u.a. Zusammenarbeit mit Uhland, Kerner, Almanache, Zeitschrift "Prometheus"). [2] Knab, Valentin, Karl Siegmund v. Seckendorff, ein Beitrag zur Geschichte des deutschen volkstümlichen Liedes und der Musik am Weimarer Hof im 18. Jh., in: Jahresbericht des historischen Vereins für Mittelfranken, Bd. 60, 1914 17 – 184. [3] Zit nach Siegrid Düll 2010 S. 8 [4] Seckendorf in Teutscher Merkur, Band. 4 1776, Mai 169 – 186 (Über italienische Tonkunst) und 212 – 228 ( Über die Musikalische Edukation) in: Das Journal von Tieffurt 1781-1784 mit einer Einleitung von Bernhard Suphan, hg. von Eduard von der Hellen Weimar 1892, passim. S. 218. |
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